Kunstmuseum Singen

Sammlung Kunstmuseum Singen
Walter Becker (1893-1984)
Der Spaziergang, 1960


Walter Becker (1893-1984)
Der Spaziergang, 1960
Öl auf Rupfen, 195,5 x 90,5 cm 
Kunstmuseum Singen
1983 erworben für die städtische Kunstsammlung
© Andreas Hoelscher, Nachlass Walter Becker

Das Werk des Malers und Grafikers Walter Becker wurzelt formal und generationsbedingt in der Kunst des deutschen Expressionismus. Das Interesse am unmittelbaren Ausdrucksgehalt und impulsiver Offenlegung emotionaler Befindlichkeiten durch den Einsatz der gestalterischen Mittel verbindet Beckers grob vereinfachte Bildschöpfungen mit denjenigen der »Brücke«-Maler. Insbesondere seine figurativen Arbeiten der 1950er und 1960er Jahre, die Becker dem herrschenden Zeitgeist der reinen Abstraktion entgegenstellte, offenbaren den stilprägenden Einfluss von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) und Erich Heckel (1883–1970).

Im überlebensgroßen, schmalen Bildausschnitt des vorliegenden Gemäldes schreiten zwei modisch gekleidete Damen selbstbewusst einher, die Blicke herausfordernd auf einen männlichen Passanten geheftet. Der elegante Habitus der stolz promenierenden Frauen verkörpert sinnbildlich die Wohlstandsjahre des wirtschaftlichen Aufschwungs im Deutschland der Nachkriegszeit. Die scheinbar flüchtig beobachtete und dennoch bewusst komponierte Alltagsszene thematisiert Momente von Sehen und Gesehen-Werden. Vor allem visualisiert Walter Becker in exemplarischer Form das spannungsreiche Verhältnis der Geschlechter, die Polarität zwischen Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung - das Wechselspiel also zwischen Mann und Frau, welches als eigentliches Generalthema sein figürliches Schaffen kennzeichnet.

Das Bild artikuliert eine Neubelebung und Weiterentwicklung expressionistischer Bildästhetik in der Nachkriegszeit, wodurch Walter Becker den Rang eines Vorläufer der »jungen Wilden« der 1970er Jahre behauptet. Gleichzeitig hebt der starke Abstraktionsgrad der seine Bildschöpfungen von den Gründervätem des Expressionismus ab und verleiht seinem Schaffen eine konsequente Eigenständigkeit.