Kunstmuseum Singen

Harald F. Müllers »KALASCHNIKOW, rot«
im Kunstmuseum Singen
Ein Beitrag von Christoph Bauer



Produktives Sehen in einer Welt voller Bilder

Ein wesentlicher Ausgangspunkt für sein künstlerisches Schaffen ist Harald F. Müller die Beobachtung, dass weder die realen Räume, in denen wir leben und agieren, noch die imaginären, in denen wir uns gedanklich und emotional bewegen, leer sind. Ganz im Gegenteil: Sie sind immer schon besetzt, voll, ja übervoll – und die große Geste in der Kunst, wonach ein Werk durch die Kraft seines Schöpfers ex nihilo geschaffen werden kann, ist vor diesem Hintergrund längst brüchig und fragwürdig geworden. Heißt das aber im Umkehrschluss, von den schöpferischen Fähigkeiten abzulassen und >die< Kunst beiseite zu tun?

Nein: Nehmen wir ein wesentliches Prinzip der Kunst ernst, dass nämlich >der< Künstler in produktiver Weise zu sehen vermag und sich damit das zu eigen macht, was ihm die Welt zugleich darbietet wie auch zu entziehen scheint, so steht Harald F. Müller für einen Künstlertypus, der uns – jenseits überkommener Kategorien alltäglichen Sehens, aber auch jenseits der klassischen künstlerischen Gattungen – einen veränderten, schöpferischen Umgang mit >Bildern< gleich welcher Art aufzuzeigen vermag.

 

Malerei und Photographie

Auf zwei Sammlungen baut Harald F. Müller seine eigene künstlerische Arbeit auf: Da ist zum einen der riesengroße Fundus (an-)gesammelter fotografischer Bilder aus denen sich dieser >Photograph ohne Kamera< bedient. Öffnet der >Bilderjäger< eine seiner unzähligen Ablage-Pappschachteln, so ist man mit einer (Über-)Fülle an Covern, Reproduktionen, Fotografien, Ausschnitten aus Firmenarchiven, Zeitschriften, Antiquariaten und Flohmärkten etc. konfrontiert, die für den außenstehenden Betrachter zunächst wenig inneren Zusammenhang aufzuweisen scheinen. Es handelt zunächst einmal nur um Material; um ein Repertoire, aus dem Harald F. Müller schöpft. Im seinem Atelier findet sich andererseits aber auch eine >Farbenküche<: Hunderte reiner Pigmente, die der Maler Harald F. Müller über Jahrzehnte im seinem gesonderten Farbraum zusammengetragen hat. Abgefüllt in Gläsern stehen auch diese Farben, fein säuberlich in Regalen gereiht, für eine Kraft: für jenes sinnlich-visuelle Potential nämlich, das der Malerei immer noch eigen ist. Mit seinen hoch pigmentierten Farben gestaltet Harald F. Müller, häufig in enger Zusammenarbeit mit namhaften Architekten und Büros, ganze Farbräume oder legt, wie im Foyer des Kunstmuseums Singen, Farbfelder um seine Bildobjekten herum an.

 

Vor und außer Ort

In Singen haben sich Müllers Buchstabeninstallation >SINGEN< (2000) vor der tiefdunklen, preußischblauen Wand des DRK-Gebäudes und die Farbgestaltung des Industriebahnhofes (1998/2018 in Kooperation mit Fabian Winkler) fest in den öffentlichen Raum eingeschrieben. Die Liste seiner realisierten Außenskulpturen und architekturbezogenen Farbprojekte an und in öffentlichen Bauten, Plätzen, Schulen und Universitäten aber ist lang und reicht von Paris im Westen bis nach Linz im Osten, von Worpswede im Norden über Karlsruhe, Stuttgart und den Bodenseeraum im Süden weiter bis nach Winterthur, St. Gallen oder Zürich, wo er u.a. mit dem bekannten Architektenpaar Gigon & Guyer mehrere Farbprojekte in deren Großbauten realisierte. Müllers Cuts und Bildobjekte sind in zahlreiche Sammlungen renommierter Museen und Sammler eingegangen. Im Singener Industriegebiet hat sich Müller vor einigen Jahren eine große Halle gebaut, die den Namen STRATOZERO trägt. Sie dient ihm nicht allein als Atelier, sondern ist zugleich auch ein offener Ort für den Austausch unter Künstlern, kunst- und kulturvermittelnden Institutionen und Personen, Architekten, Politikern, Unternehmern usw.. Zahlreiche Treffen hat der Künstler bereits initiiert und die Bandbreite reicht von Lesungen und Vorträgen über Präsentationen und Ausstellungen bis zu anregenden Gesprächen und hitzigen Diskussionen. Gerne, so führt der Künstler aus, habe er sich nicht zuletzt deswegen für den neuen Standort entschieden, weil es sich um eine dynamische Stadt handle, er als zeitgenössischer Künstler viel und gern mit >Singener Industriematerialien< wie Aluminiumblechen, Alucobond, Alucore, Lacken arbeite und auf das Netzwerk der Erfahrungen der mittelständischen Industrie zur Umsetzung seiner Projekte setze.

 

S.A.S.-Girl

Für das aktuelle Bildobjekt >KALASCHNIKOW<, das 2020 als Dauerleihgabe des Regierungspräsidiums Freiburg in die Sammlung des Kunstmuseums Singen eingeht, hat Müller ein Cover aus der Krimiserie >S.A.S.< von Gérard de Villiers ausgewählt und als C-Print unter Museumsglas auf einen Aluminiumträger stark vergrößert aufgezogen. Das Bildobjekt, für die Erstpräsentation mit Abstand vor ein hell leuchtendes, magenta-rotes Farbfeld platziert, ist Teil der Serie >Maler und Modell<, die Harald F. Müller seit einigen Jahren immer wieder variiert und, gezielt auf den jeweiligen Raum eingehend, in seinen Ausstellungen präsentiert. Gérard de Villiers (1929-2013) erreichte mit seiner im Taschenbuch veröffentlichten Geheimdienstserie >S.A.S.<, die in Deutschland von 1977 bis 2001 im Berliner Cora Verlag unter dem Titel >Malko< erschien, international eine Millionenauflage. Held der Serie ist >Son Altesse Sérénissime< Malko Linge, ein Kontrakt-Geheimagent, der als Nicht-Amerikaner für den CIA Aufträge an den globalen Schauplätzen des Kalten Krieges übernimmt. James Bond vergleichbar, doch mit französischem Stil, erfordern diese höchstes diplomatisches Geschick und Weltgewandtheit. Die Cover dieser Krimis, weit verbreitet um die ganze Welt, wurden wiedererkennbar stets gleich gestaltet: Der Name des Autors und der Buchtitel wurden kombiniert mit dem stets einprägsam und groß gezeigten, in Capitalis gesetzten Reihentitel >S.A.S.<, der wiederum mit dem Foto eines >Bondgirls< hinterlegt wird. Diese hält meist eine Waffe in Händen. Das Singener Bild zeigt, streng frontal, hinter dem Gitter des >S.A.S.<-Schriftzugs und von der Hüfte an aufwärts, ein solches >Girl<, blond, im leichtgeschürzten Leopardendress, den Finger am Abzug einer Maschinenpistole haltend, den Betrachter mit leicht geöffneten Lippen herausfordernd anschauend.

 

Ja und Nein

Wir kennen solche >Sex and Crime<-Motive aus den 1970er und -80er Jahren, in denen sie, seinerzeit öffentlich akzeptiert, völlig ungebrochen und bar jeder Ironie zur Schau gestellt wurden. Sie wirken immer noch, wirken heute aber, nachdem seit Ende der 1960er Jahren Künstler*innen die Konventionen der Geschlechterindentität dekonstruiert haben, erkennbar aus der Welt gefallen. Sofort stellt sich vor Müllers Arbeit die ganze Kette widerstreitender Assoziationen und Gedanken ein, mit denen wir solchen Bildern heute begegnen. Einerseits entfalten sie ihr unvermindert verführerisches Potential; beflügeln sie noch immer unsere erotische Phantasie; changiert das Bild zwischen sexuellem Reiz und gefährlicher Gewalt. Andererseits: Wir wissen darum, dass hier eine männliche Phantasie mit einem Klischee bedient wird. Irgendwie doch auch ein bisschen peinlich? Und selbstverständlich steht das Bild der zum verführerischen Objekt zugerichteten Blondine für ein stereotypes Frauenbild, das in postfeministischen Zeiten so nicht bruchlos (an-)geschaut und weitergetragen werden kann. Die Frage steht im Raum: Ist es angemessen, solch ein Bild in solcher Größe öffentlich in das Foyer eines Museums zu hängen? Was soll das? Man sage nicht, der Künstler wisse nicht, was er tut: Der Reihentitel >Maler und Modell< spielt erkennbar an auf einen der großen Topoi der abendländischen Kunstgeschichte auf: das vieldeutige Thema der selbstverständlich weiblichen Muse, die den selbstverständlich männlichen Künstler zur Kunst inspiriert. Bereits im Motiv ist also eine Zwiespältigkeit im Bild angelegt.

 

Dekonstruktion des Bildes

Nun hat aber Harald F. Müller, als er die vorgefundenen Photographie einsetzte, nicht allein zum Kunstgriff des Blow ups gegriffen, sondern hat darüber hinaus sehr bewusst einen Fehldruck ausgewählt, den er auf dem Pariser Flohmarkt entdeckte. „Was in der Schrift nach einem Verrutschen der Druckfarben Magenta und Cyan aussieht, lässt die Frau schemenhaft ein zweites Mal auftauchen.“1 In diesem Moment, in dem wir die nunmehr ver-rückt auf mehreren Bildebenen unscharf Dargestellte bemerken, die in einer Art ornamentalem Dickicht agiert, nistet sich, ganz gegen die ursprünglich werblich-dienende Bildintention, die Schau des Bildes selbst als wesentlicher, eigentlicher Bildgehalt in unser Studium des Motivs ein. Das Bildganze schlägt um – Roland Barthes prägte hierfür den Begriff des >punctum<2 : Was wir sehen, ist nicht länger allein das Motiv der Blondine, sondern wir erfassen blitzartig die (De-)Konstruktion des Bildes. Die >Mache< tritt vor unseren Augen zutage. Die zielgerichtete Eindeutigkeit der Reproduktion, die Einheit von Figur und Grund ist in die Mehrdimensionalität eines offenen, malerisch gebauten, ornamental vergitterten Bildes überführt. Müllers Blow up operiert nun in einem Zwischenraum zwischen reproduzierendem Abbild und reinem Bild, Gegenständlichkeit und Abstraktion, Konnotation und Denotation, Banalität und Komplexität, außer- und innerbildlicher Wirklichkeit. Es ist dieser Einfall des Unkontrollierten ins Bild, der die Schaulust des Betrachters anstachelt. Lässt er sich auf dieses Spiel der Verweise ein, so wird er Koautor eines komplexen Bildes, dessen ganze Medialität über die sichtbar gezeigten Pixel und die Knitter in der zugrunde liegenden Abbildungsvorlage offen gelegt ist.


Bildbeschleunigung

Doch damit nicht genug. Die gesamte Versuchsanordnung wird nochmals getoppt, indem Harald F. Müller auch das Singener Bildobjekt vor eine Art Hard-Edge-Farbmalerei positioniert. Der perfekten Museumsglas-Oberfläche, die das vor der Wand schwebende Objekt schützt und schließt, wird die erkennbar von Hand aufgetragene Farbe entgegen gesetzt. Die >laute< Farbe expandiert in den Raum; wirkt wie eine Art Bildbeschleuniger. Die gesamte Erscheinung buhlt um die Aufmerksamkeit des Besuchers, der direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Foyers, das Singener Kunstmuseum betritt. Der Stratege Müller weiß um die Wirkkraft seiner Malerei. Das Bild wird in die Fläche und in den Raum erweitert; die Figur-Grund-Beziehung auch am Objekt selbst durchgespielt. So eingesetzt, behauptet sie sich die Malerei im öffentlichen wie im realen Raum auch dann, wenn der zerstreute Passant erst als Betrachter gewonnen werden soll. Bewusst strahlt das Museum >KALASCHNIKOW rot< nachts an, um das Auge des an den Foyerfenstern vorbeigehenden Passanten gezielt auf Harald F. Müllers Setzung hin zu lenken. Ist das Kunst? Ja! >Öffne die Augen< heißt eine Serie von Arbeiten des Künstlers Felix Droese. Wenn auch in einem völlig anderen Sinne, so hat auch Harald F. Müllers Kunst einen aktivierenden, die Bedingungen und Mechanismen des Sehens offen legenden Sinn. „Alles steht mit allem in einem unmittelbaren Zusammenhang.“ 3 Die Macht der Bilder erfährt, wer – wie der Künstler – den Blick offen hält für die verschiedenen Ebenen, auf denen Bilder in einer medial geprägten Welt operieren. Durch den Entzug vorschneller Rationalität schafft Müller zugleich realistisch wie auch abstrakt anmutende Bilder, die in ihrer Bedeutung sehr konkret sind.4

© Christoph Bauer, Kunstmuseum Singen

[1] Jörg van den Berg: Harald F. Müller – Maler und Modell. In: Harald F. Müller – Maler und Modell. Katalog Kunstverein Friedrichshafen. (Friedrichshafen 2016), [S.?]

[2] Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M. 1985, S.50-55. Erstveröffentlichung: Paris 1980.

[3] wie Anm. 1, [S.]

[4] Vergleiche: [Mirko Mayer?]: Harald F. Müller – S.A.S. In: Harald F. Müller – S.A.S. Katalog mirko mayer galerie / m-projects. o.O. 2015, unpag.